Zahn-, Kiefer-, Ohr- und Bulla-Chirurgie bei Kleinsäugern


Erwartungshaltung für chirurgische Zahn- und Ohrbehandlungen in unserer Praxis
(ein paar Zeilen, die uns sehr am Herzen liegen!)


Liebe Kaninchen-, Meerschweinchen-, Chinchilla-, Degu- und Mausbesitzer (wir sagen zusammenfassend „Kleinsäuger“ zu unseren Patienten)!

Sicherlich gibt es Gründe, weshalb Sie sich ausgerechnet für unsere Praxis entschieden haben.

Manche Tierhalter/innen kommen zu uns, weil wir so liebevoll mit Ihren Lieblingen umgehen und sie medizinisch genauso ernst nehmen, wie alle anderen Patienten.
Andere erhoffen von uns kleine und große Wunder bei Erkrankungen, die jedoch bereits viel zu weit fortgeschritten sind, um noch Wunder vollbringen zu können…
Deshalb ist es mir umso wichtiger, an dieser Stelle fair über eine sinnvolle Erwartungshaltung und die Grenzen des medizinisch Machbaren aufzuklären!

Nach vielen (!) Jahren intensiven Lernens im Bereich der Kleinsäugerzahnmedizin, wage ich es mittlerweile, mich vorsichtig „Spezialist“ zu nennen.
Ich habe an Fortbildungen teilgenommen, Bücher und Fachartikel gewälzt, versucht Tieren zu helfen, denen aus heutiger Sicht meiner Erfahrung nicht mehr zu helfen war, und ich habe unglaublich viel aus Foren- und privaten Diskussionen mit anderen, hochmotivierten und fachlich versierten Kolleginnen und Kollegen, gelernt!

Nachweise über gesammelte Fortbildungsstunden kann ich nicht vorweisen, denn die Kurse, die seit Jahrzehnten (bis heute) angeboten werden, befassen sich nach wie vor schwerpunktmäßig mit dem Thema „Schleif‘ das sichtbare Problem weg, denn solange das Tier frisst, wird es schon keine Schmerzen haben“!
Langzeitergebnisse – Verbesserungen der Situation oder gar Ausheilung eines entzündlichen Zahnprozesses – an immer und immer wieder geschliffenen Zähnen konnte KEIN EINZIGER Redner vorweisen. Auch in Fachartikeln oder Büchern sind keinerlei Beweise für die Richtigkeit dieser rein palliativen Maßnahme zu finden.

Im Gegenteil!

Patienten, deren Zähne wiederholt geschliffen werden, weisen bei röntgenologischen Verlaufskontrollen eine kontinuierliche Verschlechterung des ursprünglichen Problems auf und es ist eine Schande, dass diese Tatsache weder in die Universitätslehre, noch in die Fortbildungsveranstaltungen Einzug erhält.

Warum könnte das so sein?

Die Behandlung von nachwachsenden Zähnen ist eine hoch komplexe Aufgabe, denn der Kiefer-/Zahnapparat dieser Tiere unterliegt einer sehr komplizierten Dynamik.
Wenn eine Zahnwurzel schmerzhaft ist, dann entlastet das Tier – im Rahmen des Möglichen – den Druck auf diesen Zahn, während es zwangsläufig die restlichen Zähne im Gebiss unphysiologisch (also unnatürlich/ungesund) belastet.
Es entstehen in der Folge Probleme an anderer Stelle im Kiefer, die es durch regelmäßige orale und Röntgenkontrollen zu erkennen und zu behandeln gilt.

Es reicht also niemals aus, einen Zahn, der aufgrund einer Wurzelentzündung zu lang gewachsen ist, einfach nur zu kürzen, denn das Tier wird ihn auch weiterhin entlasten und er wird wieder zu lang wachsen.

Gleichzeitig werden andere Zähne im Kiefer falsch belastet, so dass mit der Zeit andere Probleme entstehen.

Diese Probleme müssen durch häufige Kontrollen (mit und ohne Narkose) und regelmäßiges Röntgen, dessen Befunde stets kritisch hinterfragt werden sollten, so frühzeitig wie möglich erkannt werden, damit ebenso schnell durch weitere Maßnahmen gegengesteuert werden kann, bis sich im Idealfall ein Gleichgewicht zwischen dem Wachstum und der kontinuierlichen Abnutzung der verbliebenen, gesunden Zähne einstellt. Nur diesen Zustand kann man „Heilung“ nennen.

Ich empfehle für meine Zahnpatienten nach meinem aktuellen Wissensstand umfangreiche Röntgenkontrollen (in Narkose, mindestens 4 Aufnahmen) im Abstand von 3 Monaten.

Oje – ich schweife zu sehr vom Thema ab… aber diese Grundlagen sind für das Verständnis des „Dilemmas“ extrem wichtig.

Es scheint also wesentlich einfacher für einen behandelnden Tierarzt zu sein, die offensichtlichen Veränderungen eines Gebisses wieder in die „normale“ Form zu schleifen und dies Monat für Monat zu wiederholen, statt das eigentliche Problem zu erkennen und zu beseitigen – also in den meisten Fällen im wahrsten Sinne des Wortes „an der Wurzel zu packen“.
Denn die Extraktion veränderter, entzündeter, schmerzhafter Zähne ist nicht nur technisch sehr anspruchsvoll – sie muss auch aufwändig und engmaschig nachbehandelt werden.

Das verursacht hohe Kosten und viele Arztbesuche – darunter auch immer wieder Narkosen.
Konkret müsste ich meine Patienten, die nicht selten bis zu zwei Stunden Anfahrt zu bewältigen haben, nach einer Operation eigentlich alle 1-2 Tage einbestellen und alle 4 Tage kurz in Narkose legen, um die Wunden gründlich zu reinigen (je nach OP klappt das auch wach)…

Aber wie geht man denn nun „richtig“ an einen Kleinsäuger-Zahnpatienten heran?

Erkennen des Problems:
Der Patient wird gründlich allgemein untersucht, um Probleme, die nicht von den Zähnen ausgehen, nicht zu übersehen.
Es folgt eine eingehende orale Untersuchung inklusive der Kopf-, Kiefer- und Augensymmetrie. 
Dabei dürfen wir wach niemals einen Kieferspreizer verwenden, um ins Maul zu sehen!
Der Kopf des Patienten wird entweder wach in 2 Positionen (Ebenen) als „Screeningaufnahme“ (erster Eindruck) oder in Sedation (oder Narkose) in mindestens 4 Ebenen und sehr präzise geröntgt.
Im Anschluss können tierartabhängig weitere Speziallagerungen oder intraorale Röntgenaufnahmen angefertigt werden.
In einigen Fällen (vor allem Probleme in der Nase oder im Mittel- und Innenohr – Paukenhöhle!) kann auch ein hochauflösendes CT (Conebeam-CT) notwendig werden.

Erst jetzt sollten wir uns an eine Diagnose heranwagen.

Behandeln:
Ziel der Behandlung sollte immer die Beseitigung des schmerzhaften Zustandes bzw. des/der Entzündungsherdes sein (ich gehe an dieser Stelle nicht darauf ein, ob Kleinsäuger Zahnschmerzen haben und warum sie sie nicht oder erst viel zu spät zeigen – diese Informationen stehen in meinem Zahnflyer).
Und genau das ist in vielen Fällen leider nicht (oder nicht mehr) möglich, weil uns eine große Anzahl der Patienten viel zu spät und mit sehr weit fortgeschrittenem Krankheitsverlauf vorgestellt wurden.
Warum? Weil sie schon seit kurz nach der Geburt falsch ernährt wurden (Pellets, hartes Futter), weil sie nie Schmerzen gezeigt haben (und dies vielleicht immer noch nicht tun), weil bei den Routineuntersuchungen beim Tierarzt (z.B. Impfung) keine Hinweise auf die Erkrankung erkannt wurden, weil die Tiere nicht regelmäßig gewogen wurden (und der schleichende Gewichtsverlust nicht bemerkt wurde), weil Tierbesitzer Monate nach einem motivierten und kundigen Tierarzt suchen und dabei wertvolle Zeit verlieren…
Weil die Versorgung von nachwachsenden Kleinsäugerzähnen unglaublich komplex und schwierig ist!!!!!!!

Wir haben also die schwierige Aufgabe, Sie, liebe Frauchen, liebe Herrchen, darüber aufzuklären, dass Ihr Tier meist schon lange an starken Schmerzen litt und dass wir es nicht mehr heilen können.

Uns bleiben folgende Behandlungsoptionen:

  • Schmerzhafte Zähne ziehen und in aufwändiger Nachbehandlung und Pflege die Wundheilung begleiten und kontrollieren (oder Zahnwurzeln resezieren).
  • Abszesse sanieren und über Wochen hinweg die Heilung (und ggf. auftretende Komplikationen) begleiten.
  • Fehlgezüchteten Hängeohrkaninchen operativ Luft im unteren Gehörgang zu verschaffen, damit sich angestautes Ohrsekret nicht über Wochen und Monate hinweg durch das Trommelfell ins Mittelohr drückt.
  • Entzündete Mittelohren operieren und hoffen, dass wir diesen extrem schmerzhaften Zustand zu ausreichender Besserung führen können.

Aber das Schlimmste an all diesen Optionen ist, dass wir Ihnen häufig nicht vorher sagen können, wie gut das Ergebnis werden wird oder ob es überhaupt ein ausreichend gutes Ergebnis für Ihren Liebling geben kann – im Sinne eines schmerzfreien Lebens.
Eines jedoch ist leider sicher: wenn wir uns gemeinsam für eine Zahn-, Kiefer- oder Ohrbehandlung entscheiden, dann werden wir auf kurz oder lang immer im vierstelligen Eurobereich ankommen.
Auch dieser Punkt ist bei der Entscheidung, ob und wie umfangreich und konsequent ein chirurgischer Eingriff durchgeführt wird, für den einen oder die andere Tierhalterin nicht unerheblich und es steht uns nicht zu, darüber zu urteilen, wie viel man für sein Tier in Medizin investieren sollte oder muss.

Wir werden Sie jedoch offen und ehrlich auf die Alternative ansprechen, die es gibt, wenn wir nicht ausreichend konsequent behandeln:
um dauerhafte Schmerzen zu vermeiden, bleibt eben manchmal nur noch die Euthanasie eines Tieres.

Und Schuld daran hat wie so oft der Mensch, der mit irrsinnigen Züchtungen Tiere krank macht und lebenslange Einschränkungen und Schmerzen verursacht – seien es die fehlenden Knorpel der Widderkaninchen, die ein Abknicken der Gehörgänge zur Folge haben oder zu enge Nasenlöcher, verkürzte Nasen und zu lange Gaumensegel, die den süßen kurznasigen Qualzuchthunden das Leben versauen.
Die Probleme sind lange bekannt, aber es ändert sich nichts!!!
Und laut dem geltenden Tierschutzgesetz dürfen all diese Rassen übrigens gar nicht mehr gezüchtet werden.

Bleibt uns nur noch, Sie auf Prophylaxe- und Früherkennungsmaßnahmen hinzuweisen und dafür zu werben.

Wir empfehlen für Kaninchen:

  • So früh wie möglich einen Haltungs- und Ernährungs-Check.
  • Bereits mit 3 Monaten ein erstes Röntgenscreening wach (zwei Kopfaufnahmen inkl. Paukenhöhlen) oder noch besser gelagert während der Narkose zur Kastration.
  • Alle 6 Monate einen Routinecheck (z.B. im Rahmen der Impfuntersuchung) mit gründlicher allgemeiner und eingehender Kopf-/Kiefer-/Zahnuntersuchung
    Diese Untersuchung sollte sinnvollerweise mit einem Röntgenscreening des Kopfes kombiniert werden.
  • Wöchentliches Wiegen zuhause ist sooo wichtig und wird sooo selten konsequent durchgeführt…

Wir empfehlen für andere Kleinsäuger:

  • So früh wie möglich einen Haltungs- und Ernährungs-Check.
  • Bereits mit etwa 3 Monaten ein erstes Röntgenscreening (zwei Kopfaufnahmen inkl. Paukenhöhlen) tierartabhängig ggf. in kurzer Narkose.
  • Alle 6 Monate einen Routinecheck mit gründlicher allgemeiner und eingehender Kopf-/Kiefer-/Zahnuntersuchung
    Diese Untersuchung sollte sinnvollerweise mit einem Röntgenscreening des Kopfes kombiniert werden.
  • Wöchentliches Wiegen zuhause ist sooo wichtig und wird sooo selten konsequent durchgeführt…

Wir würden uns sehr freuen, wenn Ihnen diese Informationen ein wenig helfen, die Komplexität von Zahnerkrankungen etwas besser einschätzen zu können.

Wir versuchen, Sie im jeweiligen Einzelfall individuell zu beraten.

Noch etwas persönliches zum Schluss 😉

Ich halte mich mittlerweile für einen „Kleinsäuger-Zahn-Nerd“ und ich wage mich auch an die ganz großen Probleme heran…

…aber ich versuche meine Tierhalter immer gut und fair vorher über das zu erwartende Ergebnis aufzuklären…

und:

ICH
KANN
LEIDER
NICHT
ZAUBERN!



Ingo Diegel, im April 2023